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Wilhelm Roth wandte sich von den Monitoren der in der alten Scheune versteckten Videoüberwachungskameras ab, nachdem der Orden die Handvoll Lakaien niedergemäht hatte, die am ebenerdigen Eingang zum Labor als Wachen postiert gewesen waren. Die Lakaien waren entbehrlich, nichts weiter als ein kleines Hindernis, um die Sache glaubwürdiger zu machen. Schließlich wäre der Orden misstrauisch geworden, wenn er und Dragos ihnen zur Begrüßung den roten Teppich ausgerollt hätten. Sollten sie ruhig denken, dass sie sich ein bisschen anstrengen mussten, um ans Ziel zu kommen. Sollten sie sich nur in der Sicherheit wiegen, dass sie alles unter Kontrolle hatten - auch wenn sie die ganze Zeit über erwartet wurden und man ihrer Ankunft sogar etwas nachgeholfen hatte.

Da sich inzwischen alle Zugang zu der unterirdischen Einrichtung verschafft hatten, konnte es nur noch wenige Minuten dauern, bis der Trupp von Kriegern und Andreas Reichen den Weg hinunter durch die Erdkatakomben des Bunkers ins Herz von Dragos' Zentrale gefunden hatten. Und noch ein paar Minuten, bis sie erkannten, dass sie in die Falle gelaufen waren, und begriffen, dass es kein Entkommen gab.

Nur eine Frage von Minuten, bis Roth das besondere Vergnügen vergönnt war, sie allesamt auf einen Schlag zu töten.

Er lächelte mit ehrlicher Schadenfreude, als er sich an das halbe Dutzend Gen-Eins-Killer wandte, das sich mit ihm im Kontrollraum versammelt hatten.

„Zwei von euch kommen mit mir“, befahl er. Ihm war egal, welche der von Dragos gezüchteten und erstklassig trainierten Killer ihn begleiteten, schließlich waren sie alle für das Tötungshandwerk gezüchtet worden. „Der Rest von euch geht hoch und bewacht den Eingang. Sorgt dafür, dass keiner herein- oder hinauskommt.“

Als vier von ihnen sich in Bewegung setzten, um seinen Befehl auszuführen, verließ Wilhelm Roth den Kontrollraum, um auf den Moment seines Triumphs über Andreas Reichen und seine todgeweihten Begleiter zu warten.

Tegan und Nikolai stiegen als Erste in den nasskalten, dunklen Tunnel hinunter, der tief in die Erde gehauen und mit Stützen aus Beton und Karbidstahl verstärkt worden war. Einige Sekunden später kam Niko zurück und gab Brock, Kade und Reichen grünes Licht. Hunter und Renata blieben als Wache draußen, um den Ausgang für den Suchtrupp zu sichern.

Sobald sie die Lakaien vom Eingang fortgeschafft hatten, waren Reichen und die anderen in die alte Scheune eingedrungen. Die allerdings, wie sie schnell feststellten, gar nicht so alt war. Nichts an diesem versteckten Bunker war, wonach es nach außen aussah.

Am anderen Ende des abschüssigen Tunnels, in etwa hundert Metern Tiefe, verbreiterte sich der Gang zu einem Bunker von der Größe einer Turnhalle.

Neonleuchten tauchten den Ort in fahles Licht und beleuchteten kantinenmäßige Tische und Stühle, die ordentlich an der Wand aufgestapelt waren. Eine Schwingtür mit rundem Fenster in Augenhöhe schien in eine Art Küche und Servicebereich zu führen.

Beide waren ebenfalls leer und derzeit außer Betrieb, obwohl immer noch ein leicht widerlicher Essensgeruch in der Luft hing.

„Rat mal, wer zum Essen kommt“, meinte Kade gedehnt.

Brock schaute finster und nickte. „Menschen.“

„Lakaien“, korrigierte ihn Tegan knurrend und schnupperte verächtlich. „Höllisch viele sogar. Dragos muss jede Menge Personal hier unten haben.“

Nikolai grunzte. „Ja, aber wofür?“

„Lasst es uns rausfinden.“ Tegan gab der Gruppe ein Zeichen, ihm zu folgen. Er ging durch den leeren Raum zu dem Korridor, der auf der anderen Seite hinausführte.

Lautlos schlichen sie durch mehrere gespenstische Flure, in denen sich Tür an Tür leere Räume befanden wie in einem Wohnheim, ausgestattet mit einfachen Doppelbetten und Gemeinschaftstoiletten, ohne jede persönliche Note.

„Himmel“, flüsterte Kade. „Wie viele Lakaien, die nach seiner Pfeife tanzen, braucht so ein einziger perverser Mistkerl eigentlich?“

„Genug für ein sehr umfangreiches klinisches Projekt“, sagte Reichen, als er vor einer doppelten Stahltür stehen blieb, die er einen Spalt geöffnet hatte, um hindurchzuspähen.

Hinter der Tür befand sich ein riesiges Labor mit zur Hälfte leer geräumten Glasvitrinen, gähnend leeren Aktenschränken und notdürftig aufgeräumten Arbeitsplätzen. Der glänzende Boden war mit zerbrochenem Laborgerät übersät. Alles deutete auf eine überhastete Räumung hin. Die Krieger traten vorsichtig ein und nahmen das Wenige, das noch vorhanden war, in Augenschein - eine Handvoll umgeworfene Mikroskope, zersplitterte Objektträger und diverse andere Gegenstände. Alles davon sah aus, als wäre es dem feuchten Traum eines Chemikers entsprungen.

„Schaut euch das mal an“, rief Kade aus dem hinteren Teil des Labors. Er deutete auf eine Edelstahltonne mit Deckel, die wie ein gigantischer Dampfkochtopf aussah. „Was ist denn das für ein Teil?“

Reichen und Tegan gingen mit Brock und Nikolai hin und schauten in den großen Zylinder, nachdem Kade die Plomben gekappt und den Deckel angehoben hatte. Das Gerät war nicht mehr angeschlossen, sein Inneres hatte sich gegenüber den extremen Minusgraden, die bei Betrieb darin geherrscht hatten, beträchtlich erwärmt. Der gesamte Inhalt war entfernt worden, dennoch konnte es an seinem Verwendungszweck keinen Zweifel geben.

„Das ist ein Kühlbehälter“, sagte Reichen.

Tegan nickte grimmig. Mit dem Kinn deutete er auf einen weiteren angrenzenden Raum, in dem an der gegenüberliegenden Wand planlos eine Batterie Plexiglaskästen aufgestellt war, wie man sie vielleicht auf der Entbindungsstation eines menschlichen Krankenhauses erwartet hätte. „Brutkästen. Heiliger Bimbam, Dragos betreibt hier unten eine verdammte Zuchtfabrik!“

„Vergangenheitsform“, sagte Nikolai. „Hier wurde alles in Eile ausgeräumt.“ „Vielleicht wusste er, dass wir kommen“, schlug Brock vor. „Ich weiß nicht, wie's euch geht, aber mir wird's hier allmählich echt mulmig.“

Kade warf seinem Kumpel einen zustimmenden Blick zu. „Mir gefällt das auch nicht. War viel zu leicht, hier reinzukommen. Könnte eine Falle sein.“

„Die Ratten haben das sinkende Schiff verlassen“, ergänzte Nikolai. „Vielleicht waren sie an was dran.

Dragos würde eine Einrichtung wie diese hier nie ungeschützt einem Angriff aussetzen - es sei denn mit Absicht. Ich verwette mein linkes Ei, dass er längst über alle Berge ist und alles von Wert mitgenommen hat.“

„Dragos vielleicht“, sagte Reichen, „aber Wilhelm Roth ist noch irgendwo hier unten. Und ich werde diesen Hurensohn finden.“ Wut flackerte in ihm auf, als er sein eigenes Unbehagen ausblendete, um sich auf ein drängenderes, wesentlicheres Ziel zu fokussieren. „Kehrt um, wenn ihr wollt. Ich werde es keinem von euch übel nehmen. Aber ich mache weiter.“

In Tegans Augen glitzerte es gefährlich. „Hier unten gibt's viel zu viele offene Fragen, um jetzt umzukehren, ohne dass wir jeden Quadratzentimeter dieses Höllenlochs auseinandergenommen haben. Wenn du denkst, wir lassen dich das allein machen, hast du dich geschnitten, Reichen.“

Reichen hielt dem starrenden Blick der grünen Augen stand und spürte, wie sehr er das Gefühl von Seelenverwandtschaft schätzte, das er für diesen Krieger empfand. Eigentlich für den gesamten Orden.

Die übrigen Krieger zögerten keine Sekunde, Tegans Worte mit einem Nicken zu bestätigen, und waren an ihrer Seite, als sie tiefer in die leere Einrichtung eindrangen.

Gerade als es den Anschein hatte, als könnte Dragos' Geheimanlage nicht noch beunruhigender werden, fiel Reichens Blick auf einen langen Trakt von Gefängniszellen, genau wie Claire sie nach ihrem Traumspaziergang zu Roth beschrieben hatte. Nur dass in keiner von ihnen Stammesgefährtinnen eingesperrt waren. Das war jedoch kein Trost, denn dem Zustand der Zellen nach zu schließen, waren sie erst vor Kurzem geräumt worden.

„Teufel noch mal“, murmelte Niko, als die Gruppe näher trat, um sie sich genauer anzusehen. „Das müssen an die fünfzig Zellen sein. Wenn die alle belegt waren - was hat Dragos dann mit den Frauen angestellt?“

„Sie verlegt“, sagte Tegan. „Wahrscheinlich an denselben Ort, an den er auch sein Personal und seine Ausrüstung verlegt hat. Aber vielleicht hat er seine Geräte und Leute auch aufgeteilt, nachdem er diesen Standort so fluchtartig verlassen musste.“

„Was für ein krankes Arschloch“, bemerkte Brock, als er in eine der Zellen spähte, und fuhr sich mit der Hand über den glatt rasierten Schädel.

„Das ist noch gar nichts.“ Kade war zu einer stark gesicherten Tür gegangen, die jetzt praktischerweise entriegelt war. Erbetrat den Raum und stieß einen leisen Pfiff aus. „Das gibt's doch nicht.“

Reichen und die anderen folgten ihm hinein.

Entsetztes und anhaltendes Schweigen überfiel sämtliche Stammesmitglieder, vom Jüngsten der Gruppe bis zu dem jahrhundertealten Gen Eins, bei dem Reichen noch nie erlebt hatte, dass es ihm die Sprache verschlug.

Denn in dem Raum, genau der Tür gegenüber, befand sich ein wenig erhöht ein breites Podest. Und auf diesem Podest stand ein riesiger, mit schweren Fesseln versehener Drehstuhl für ein Individuum von gewaltiger Größe und Stärke. Fußfesseln, so dick wie Frauenschenkel, und Handschellen von einem Durchmesser, dass die Hände, die da hineinpassten, in der Lage sein mussten, den Kopf eines durchschnittlichen Menschen zu knacken wie eine Nuss.

„Hier hat er den Ältesten gefangen gehalten“, sagte Tegan, der als Erster die Sprache wiederfand.

„Verdammt. Er hatte wirklich die ganze Zeit den Ältesten in seiner Gewalt.“ „Aber wie?“, fragte Nikolai. Dann sah er zu seinen Füßen hinunter und stieß einen Fluch aus. „UV-Lichtschranken.

Seht euch den Fußboden an. Und die Decke. Um das gesamte Podest herum sind UV-Leuchten angeordnet. Wenn die eingeschaltet waren, haben sie den Ältesten besser in Schach gehalten als das dickste und stärkste Metall.“

Kaum hatte Nikolai das gesagt, zerriss ein seltsames Brummen die Luft. In allen Richtungen ging explosionsartig Licht an, so gleißend und heiß, dass Reichen und die Übrigen ihre Augen hinter vorgehaltenen Armen schützen mussten. Er roch den beißenden Geruch versengter Haut. Zuerst fürchtete er, seine Pyro wäre urplötzlich aufgeflammt. Doch dann realisierte er, dass es sich um etwas viel Schlimmeres handelte.

Reichen blinzelte durch den blendenden Lichtschein und spähte nach oben. Und dort entdeckte er in der Zelle des Ältesten eine verglaste Beobachtungskabine, die er bis zu diesem Moment nicht bemerkt hatte.

Und dort stand Wilhelm Roth und grinste voll selbstgefälliger Genugtuung zu Reichen und den Kriegern hinunter, die zwischen den tödlichen vertikalen UV-Strahlen eingepfercht waren. Er gab zwei groß gewachsenen Männern - ganz in Schwarz, mit hartem Blick und Automatikgewehren - ein Zeichen. Beide trugen dicke Polymerhalsbänder, und ihre rasierten Schädel und nackten Hälse waren von Gen-Eins-Glyphen bedeckt. Ihre kräftigen, muskulösen Körper waren Kampfmaschinen von tödlicher Präzision. Die beiden Killer verließen die Beobachtungskabine nach beiden Seiten und postierten sich auf dem Absatz einer zweiläufigen Treppe.

Dort legten sie auf Reichen und die Übrigen an, die in dem UV-Lichtkäfig eingeschlossen waren, und eröffneten das Feuer.

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